Wird ein Kind geboren, wünschen sich die Eltern vor allem eines: Dass es aufrecht durch´s Leben geht. Und obgleich wohl die Wenigsten diesen Wunsch wörtlich meinen, ist die Tatsache, dass der Nachwuchs schon nach wenigen Monaten die ersten unsicheren Schritte macht und seine Welt bereits kurze Zeit später auf den eigenen kleinen Beinen erkundet, durchaus keine Selbstverständlichkeit. Koordiniert durch eine Vielzahl von Sehnen und Bändern, besteht der Bewegungsapparat eines erwachsenen Menschen aus gut 212 Knochen und 656 Muskeln – und dass Kinder die Milliarden exakter Einzelabläufe, die zum Laufen notwendig sind, mühelos und im wahrsten Sinne des Wortes „spielend“ erlernen, grenzt an ein Wunder.
So setzt sich in der Entwicklung eines jeden Menschen im Kleinen das eine große Wunder fort, das am Anfang stand und dem wir alle unser Dasein verdanken: Dass die sechs unbelebten Grundbausteine des menschlichen Körpers – Sauerstoff, Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Schwefel und Phosphor – vor rund drei Milliarden Jahren durch die richtige Anordnung zufällig ein Bewusstsein besaßen und so das „Leben“ entstanden war.
Auf eigenen Füßen stehen – keine Selbstverständlichkeit
„Bewegungen sind alles, was die Menschheit vollbringen kann.“
(Charles Sherrington, Neurophysiologe & Wegbereiter der Motorik-Forschung)
Ohne die gezielte Muskelbewegung wäre der Mensch nicht lebensfähig. Dabei sind es nicht nur Beine, Arme und Hände, die von den Muskelzellen gelenkt werden – auch die Körperhaltung, die Mimik, der Herzschlag und die Bewegungen der Atemorgane kommen durch abwechselndes Zusammenziehen und Entspannen der entsprechenden Muskelgruppen zustande. Allein für die Bewegungen von Augenpartie und Lippen sind rund 30 Muskeln im Einsatz. Trotzdem ist die Entwicklung der Motorik bei Säuglingen und Kleinkindern neben dem Spracherwerb und dem Prozess der Bewusstseinsbildung ein häufig unterschätzter Vorgang.
Natürlich beobachten alle Eltern ihren Nachwuchs, der schon wenige Tage nach der Geburt alle Sinne und verschiedene Reflexe ausbildet, sehr aufmerksam und bemerken stolz jeden noch so kleinen Fortschritt. So können die meisten Säuglinge in Bauchlage bereits ab einem Alter von etwa drei Monaten den Kopf heben; wenig später sind sie in der Lage, sich vom Rücken auf den Bauch zu drehen. Manche Babys können schon ab dem sechsten Monat alleine sitzen und die meisten fangen in einem Alter von ca. einem Dreivierteljahr an, zu krabbeln.
Spätestens mit 16 Monaten folgen die ersten, meist wackligen Schritte. Für Sie vergehen diese Monate wie im Fluge – für Ihr Kind jedoch ist es bis zu den ersten eigenständigen Schritten ein sehr weiter Weg, der es jeden Tag vor neue Herausforderungen stellt.
Zur Übersicht: Alter und durchschnittlicher motorischer Entwicklungsstand
Alter | Entwickelungstand |
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Ab ca. 3 bis 5 Monaten: | Erste eigenständige Bewegungen wie Kopf heben und Veränderung der Rücken- zur Bauchlage etc. |
Ab ca. 6 Monaten : | Wippen und „Hüpfen“ im Sitzen oder Knien, mit unter schon eigenständiges Sitzen. |
Ab ca. 8 oder 9 Monaten : | Vorwärts und rückwärts gerichtetes Krabbeln und „Robben“, zum Teil auch schon erste Versuche, sich an Möbelstücken hochzuziehen; eigenständiges Hinsetzen aus dem Stand; Beugen der Knie. |
Zwischen dem 11. und dem 13. Monat: | Die ersten Schritte, in der Regel noch mit Festhalten an Möbelstücken oder helfenden Händen. |
Ab ca. 14 Monaten : | Erste Schritte ohne fremde Hilfe, zum Teil bereits seitliche Schritte; eigenständiges (und erfolgreiches) Aufstehen aus dem Sitzen. |
Ab ca. 15 Monaten : | Relativ abgeschlossene Verinnerlichung aller zum Laufen notwendigen Abläufe; in der Regel erfolgreiche Koordination aller Bewegungsabläufe. |
Gehen als komplexer Vorgang – was genau passiert hier?
Die Bewegungen der Sehnen und Muskelgruppen, die sich beim Laufen ausbilden, wären nicht möglich ohne die Beteiligung bestimmter Nervenzellen, den sogenannten „Motoneuronen“, von denen es zwei Arten gibt:
- Die unteren Motoneuronen, welche sich im Rückenmark befinden, reizen die Muskelfasern der Skelettmuskulatur und sorgen somit für die Kontraktion. Mit anderen Worten: der entsprechende Muskel zieht sich zusammen. Diese Bewegungen sind besonders schnell ausführbar, da die entsprechenden Nervenimpulse ohne einen „Umweg“ über das Gehirn direkt am Muskelansatz wirken.
- Die oberen Motoneuronen hingegen, von denen die unteren Motoneurone ihren „Befehl“ erhalten, sind Teil des Motorischen Cortex. Das heißt sie befinden sich in bestimmten Teilen des Hirnstamms; ein gesunder Mensch besitzt etwa eine Million oberer Motoneuronen, welche den Reiz über das Rückenmark an die unteren Motoneuronen weiterleiten. Diese führen den Reiz an der Muskelfaser aus – und die entsprechende Bewegung entsteht.
Genauso, wie Ihr Kind nur nach und nach neue Bewegungen erlernt, muss es auch das Zusammenspiel von Nerven und Muskeln im Laufe der Zeit perfektionieren. Dabei helfen ihm sogenannte „sensorische“ Rückmeldungen über den Erfolg oder das Misslingen einer bestimmten beabsichtigten Bewegung – das Gehirn verarbeitet diese Meldungen und setzt sie entsprechend um. So helfen Nerven und Sinne gleichzeitig dabei, die erfolgreiche Umsetzung der Bewegungen zu koordinieren. Je öfter sich diese Prozesse und Abläufe wiederholen, desto schneller werden sie automatisiert und desto größere Fortschritte macht Ihr Kind mit der Zeit – denn einmal erlernt, hört der Mensch nie wieder auf zu Laufen.
Wie lernen Kinder Laufen? Ein weiter Weg
Während sich das Baby im Mutterleib noch frei bewegen und ungehindert in alle Richtungen drehen und wenden kann, wird es im Augenblick der Geburt zu einem enorm hilfsbedürftigen Wesen, das ohne Pflege und Zuwendung tatsächlich nicht überlebensfähig wäre. Denn auch wenn Babys bereits in den ersten Lebenswochen mit den Beinen strampeln und die Füße in Richtung Boden treten, sobald Sie sie unter den Armen hochziehen, bedeutet dies nicht, dass sie von Anfang an die Fähigkeit besitzen, zu laufen. Es handelt sich vielmehr um eine Reflexreaktion, denn in diesem Alter kann Ihr Kind sein Gewicht noch lange nicht alleine tragen.
Laut einer New Yorker Studie, in deren Verlauf die Entwicklungspsychologin Karen Adolph Kleinkinder im Alter von 11 bis 14 Monaten bei ihren alltäglichen kleinen Erfolgen und Misserfolgen filmte, legen Kinder dieses Alters pro Tag rund 14.000 Schritte zurück – wobei sie rund 100 Mal hinfallen. Als Ergebnis ihrer Arbeit hält Adolph fest, dass Laufen in erster Linie Übungssache ist – denn je weiter die Kinder laufen und desto öfter sie fallen, desto weniger werden sie am nächsten Tag fallen und desto weiter werden sie Tag für Tag laufen können.
Dabei sind es nicht nur die Muskeln, die durch Übung trainiert werden müssen: Was Ihr Kind wirklich trainiert, ist die Koordination der vielen unterschiedlichen Abläufe, die beim Laufen von Statten gehen. Diese resultieren letztlich in dem perfekten Zusammenspiel von Gehirn, wo die Bewegungen geplant und vorbereitet werden, dem Rückenmark, durch das die Nervenimpulse transportiert werden, und den mehr als 400 Muskeln, die beim Laufen beansprucht werden.
Im Folgenden werden deshalb 3 wichtige Entwicklungsschritte genauer aufgezeigt:
- Zunächst ziehen die Babys an Gegenständen hoch – die Finger entwickeln sich
Interessanterweise beginnt das Laufen lernen nicht mit den Füßen, sondern mit den Fingern: Im Alter zwischen acht und zehn Monaten wächst Babys Neugier und es beginnt damit, sich an Möbeln und anderen stützenden Gegenständen hochzuziehen – hierfür muss es greifen und sich festhalten können. Auch die stützende Hand eines Elternteils, mit deren Hilfe das Kleinkind die ersten Schritte in den freien Raum macht, muss es gut greifen und festhalten können.Wichtige Fakten für den eiligen Leser:- Babys ziehen sich an Gegenständen hoch
- Schon relativ früh können Babys sich gut festhalten
- Die Beinmuskulatur bildet sich ab dem 5. Monat aus
Die Muskulatur der Beine wird ca. ab dem fünften Monat fortwährend geschult, indem das Kleinkind im Sitzen auf den Knien wippt oder auch, wenn Sie es festhalten und mit den Füßen auf Ihren Oberschenkeln „stehen“ lassen, auf und ab hüpft. Auch durch robbende und krabbelnde Bewegungen werden diese Muskelgruppen ausgebildet und gestärkt. Sobald Ihr Kind damit beginnt, sich an Möbeln und Menschen hochzuziehen, wird es ganz automatisch versuchen, erste Schritte zu machen. Erst nach und nach lernt es, die eigene Kraft und die räumlichen Relationen einzuschätzen. Die meisten Kleinkinder lernen etwa mit neun oder zehn Monaten, wie sie ihre Knie beugen und sich aus dem Stand wieder hinsetzen können, ohne umzufallen.Wichtige Schritte für den eiligen Leser:- Ab dem 5. Monat bildet sich die Beinmuskulatur aus
- Wippen mit den Knien oder Stehen auf dem Oberschenkel der Eltern hilft dabei
- Erste erfolgen automatisch beim Hochziehen
- Mit 9 oder 10 Monaten lernen Kinder, das Knie zu beugen und sich aus dem Stand wieder hinzusetzen
- Anfangs holprig, später flüssig – Kinder lernen laufen
Nachdem sie ein paar Wochen lang nur mit „helfender Hand“ gelaufen sind, machen dreiviertel aller Kleinkinder mit etwa 13 Monaten die ersten selbstständigen Schritte. Anfangs tasten sie sich dabei noch immer von Möbelstück zu Möbelstück und setzen nur vorsichtig einen Fuß vor den anderen – doch mit wachsender Routine kommt auch die Abenteuerlust. Mit etwa 14 Monaten folgen in der Regel die ersten zögernden Schritte zur Seite. In dieser Zeit beginnt Ihr Kind auch damit, sich aus dem Sitzen aufzurichten und ohne Hilfe stehen zu bleiben. Mit durchschnittlich 15 Monaten ist der Prozess des Laufens weitestgehend abgeschlossen und das Kleinkind beherrscht alle Einzelabläufe, auch wenn es sie – im Gegensatz zu seinen Eltern – noch sehr bewusst ausführen muss: Es muss Schwung holen, Gewicht verlagern und ausbalancieren.Die wichtigsten Schritte für den eiligen Leser:- Mit 12-13 Monaten erfolgen die ersten Schritte komplett aus eigener Kraft
- Anfangs werden noch Stützen wie Möbel und Personen auf den eigenen Wegen gesucht
- Als nächstes folgen Schritte zur Seite und Aufrichten aus dem Sitzen
- Ab dem 15. Monat ist das Laufen größtenteils abgeschlossen
- Das Kind führt alle Bewegungsabläufe zunächst noch sehr bewusst aus
Eine helfende Hand – was Sie tun können, um Ihr Kind zu unterstützen
Um Ihren Nachwuchs in dieser Phase, in der er täglich Neues lernt und seine Umwelt Stück für Stück erkundet, bestmöglich zu unterstützen, sollten Sie in jedem Fall darauf verzichten, Ihr Kind fortwährend auf erste Anzeichen besonderer Fähigkeiten zu belauern und es mit anderen zu vergleichen. Jedes Kind lernt in seinem eigenen Tempo – und am besten helfen Sie Ihrem Sprössling, indem sie ihm die Zeit lassen, die er braucht. Es gibt jedoch einige Dinge, die Sie beachten sollten, damit der Prozess des Lernens für Ihr Kind reibungslos funktioniert – und natürlich können Sie ihm im Rahmen der normalen Entwicklung ein wenig unter die Arme greifen. Folgende Möglichkeiten sind gegeben:
- Zu Beginn auf feste Schuhe und Lauflernhilfen verzichtenDamit Ihr Kind ein natürliches Gespür für seinen Körper, die Bewegungsabläufe und auch die Materialien gewinnt, von denen es umgeben ist, sollten Sie zunächst auf feste Schuhe verzichten. Am besten ist es, das Kleinkind barfuß oder in Söckchen auf Erkundungstour zu schicken, damit sich die Fußmuskulatur natürlich und gesund entwickeln kann. Auch von dem Gebrauch sogenannter „Lauflernhilfen“ ist abzuraten, da diese das Kind zwar vor Misserfolgen und Hinfallen schützen, ihm zugleich jedoch die Möglichkeit nehmen, aus seinen Fehlern zu lernen und sie in Zukunft vielleicht zu vermeiden.
Auch spätere Haltungsschäden sind bei Benutzung dieser Produkte nicht ausgeschlossen, da die Rückenmuskulatur des Kleinkindes sich durch die aufrechte Zwangshaltung nicht normal entwickeln kann. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V. warnt sogar vor dem Gebrauch der entsprechenden Produkte, da diese unter Umständen zu schweren Unfällen führen können. - Ermutigung und Training hilft den Kleinen beim LernenSobald Ihr Kind damit beginnt, sich an Möbelstücken hochzuziehen, sich festzuhalten und schon einmal probeweise einen Fuß vor den anderen zu setzen, können Sie mit ihm „trainieren“. Hierzu sollten Sie es ermutigen, sich weiter vorwärts zu bewegen, indem Sie sich beispielsweise vor Ihr Kind setzen oder knien und es – an Ihrer Hand geführt – auf sich zukommen lassen. Auch Rutscheautos oder Ähnliches, die Ihr Kind vor sich herschieben kann, können in dieser Phase sehr nützlich sein, da die Bewegung mit ihnen die Beinmuskulatur stärkt und sie zugleich als Stütze fungieren.
- Bei Lauflernschuhen auf Qualität achtenSogenannte „Lauflernschuhe“ sind laut ÖKO-TEST mit Vorsicht zu genießen, beziehungsweise sollten diese, wenn sie zum Einsatz kommen, sehr sorgfältig und überlegt ausgewählt sein. Für Babys und Kleinkinder ist es essentiell, dass sie das Laufen barfuß erlernen, da nur so gewährleistet ist, dass die Füße richtig abrollen und sich die Muskulatur gesund entwickelt. Darüber hinaus ist die tastende Erkundung der Umwelt unerlässlich für die spätere Entwicklung der Feinmotorik. Für die ersten Ausflüge an den Strand oder ins Gebirge jedoch können Lauflernschuhe wichtig werden, um die Füße vor Verletzungen zu schützen. Hier sollten Sie jedoch darauf achten, nur Schuhe mit besonders flexiblen Sohlen zu kaufen, welche nicht beim Abrollen hindern. Darüber hinaus sollte die Ferse nach Aussage des französischen Orthopäden und Fußexperten Philippe Pelligand in einem Video auf Verbaudet.de stabilisiert sein, um das Für fußkalte Wohnungen reichen in der Regel Krabbelschuhe mit einfacher Wildledersohle aus.
Jedem seine Zeit – warum manche Kinder früher und manche Kinder später Laufen
Manche Kinder machen die Wohnung bereits mit neun Monaten unsicher, andere brauchen fast doppelt so lange. Eltern neigen in dieser Zeit dazu, Entwicklungsverzögerungen, motorische Schwierigkeiten oder andere Ursachen anzunehmen, die sich durch Training beheben ließen. Doch der physiologische Reifungsprozess lässt sich in der Regel nicht von außen beschleunigen – ihr Kind läuft, wenn es läuft. Erst wenn es mit mehr als 20 Monaten noch immer keine Anstalten macht, aus eigener Kraft vorwärts zu kommen, sollten Sie sich um medizinischen Rat bemühen.
Übrigens kann ausgehend von der Frage, wie früh oder wie spät ein Kind laufen lernt, keine Aussage über dessen generelle Fähigkeiten getroffen werden. So hat eine Studie des Kinderspitals Zürich und der Universität Lausanne beispielsweise gezeigt, dass frühes Laufen lernen keineswegs – wie bisher vermutet – ein Zeichen erhöhter Intelligenz ist. Was jedoch sehr wohl eine Rolle spielt, sind die Ernährung und der Erziehungsstil der Eltern. Ein Kind, das mit allen wichtigen Nährstoffen versorgt ist, hat genügend Energie, um die Herausforderungen des Laufens zu meistern. Darüber hinaus wird ein Kind, das sich viel im Freien aufhält, sehr schnell ein gesundes Körpergefühl entwickeln, welches wesentlich zur Ausbildung der motorischen Fähigkeiten beiträgt.
Fazit – von den ersten Schritten zum aufrechten Gang durch´s Leben
Als erwachsener Mensch beobachten Sie die Versuche Ihres Nachwuchses, sich vorwärts oder rückwärts robbend fortzubewegen oder sich erstmals an Schubladen und Hosenbeinen in den Stand zu ziehen, mit einer Mischung aus Stolz und Belustigung – denn welches Kleinkind sieht nicht drollig aus, wenn es mit dem Kopf wackelt und mit den Armen rudert?
Doch wir sind so daran gewöhnt, unseren eigenen Bewegungsabläufen, die zum größten Teil automatisiert und daher unbewusst von Statten gehen, keinerlei Aufmerksamkeit mehr zu schenken, dass wir uns in der Regel nicht klarmachen, dass der neue Erdenbürger dies alles zum ersten Mal macht. Lassen Sie Ihrem Nachwuchs also die Zeit, die er benötigt – und begleiten Sie ihn so Tag für Tag auf dem Weg durch sein eigenes kleines Wunder.