Stammzellenforschung, Nabelschnurblut und Kryostase – drei Begriffe, die im ersten Moment an Science-Fiction erinnern. Seit einigen Jahren befasst sich allerdings eine wachsende Zahl von Eltern mit diesen Begriffen. Der modernen Medizin sind sie inzwischen so vertraut wie die Blindarm-OP, der Graue Star oder die Lebertransplantation. Seit den 1980er Jahren ist Medizinern und der Forschung klar, dass im Nabelschnurblut von Neugeborenen Potenzial steckt – in Form der darin enthaltenen Stammzellen.
Und seit Ende der 1980er Jahre scheint man sich auch dahin gehend einig, dass mit dem Blut bzw. den daraus gewonnenen Zellen bei verschiedenen Erkrankungen Heilungschancen bestehen. Aber: Aufgrund der Neuartigkeit des Forschungsfelds fehlt es in vielerlei Hinsicht an verlässlichen Daten und Studien. Trotzdem lässt eine zunehmende Zahl von Eltern direkt nach der Geburt Nabelschnurblut entnehmen und aufbewahren.
Laut einer wissenschaftlichen Arbeit aus dem Jahr 2011 lag die Zahl der aufbewahrten Nabelschnurblut-Spenden bis zum Veröffentlichungszeitpunkt weltweit bei 600.000 Einheiten. Die International NetCord Foundation – eine nicht-kommerzielle Organisation im Bereich der Nabelschnurblutspende – betreut eigenen Angaben zufolge aktuell mehr als 210.000 Spenden. Ein stark zunehmendes Interesse am Nabelschnurblut darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier um ein medizinisches Feld mit vielen offenen Fragen handelt. Gerade die Debatte nach dem Sinn der exklusiven Aufbewahrung des Nabelschnurbluts für das eigene Kind wird heute weniger von medizinischen Aspekten geleitet. Vielmehr geht es beim Thema Nabelschnurblut-Stammzellen auch um wirtschaftliche Fragestellungen.
Was macht Nabelschnurblut so wertvoll?
Das Nabelschnurblut bzw. Plazentarestblut ist der Medizin – zumindest aus anatomisch/tokolgischer Sicht – bereits seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar schon länger bekannt. Dessen Potenzial hat man allerdings erst in den vergangenen 25 Jahren verstanden. Der Grund: Erst seit den 1980er Jahren weiß die Medizin, dass im Nabelschnurblut ein hoher Anteil sogenannter adulter Stammzellen vorhanden ist. Im Vergleich zu den embryonalen Stammzellen besitzen diese zwar ein vermindertes Regenerationsvermögen und können sich nicht mehr in jede beliebige Körperzelle ausdifferenzieren.
Adulte Stammzellen sind aber dennoch in der Lage, bei verschiedenen Erkrankungen des Blutes, wie beispielsweise:
- Leukämie
- Blutbildungsstörungen
- verschiedenen Tumoren
- Autoimmunerkrankungen o. Ä.
einen Heilungserfolg zu erzielen. Zudem besitzen die Stammzellen aus dem Nabelschnurblut die Fähigkeit, sich in Zellen verschiedener Organe entwickeln zu können. Wie anderen adulten Stammzellen fehlt ihnen aber die Fähigkeit, sich in Zellen der drei Keimblätter zu differenzieren.
Nabelschnurblut-Stammzellen vs. Knochenmark-Stammzellen
Nabelschnurblut-Stammzellen | Knochenmark-Stammzellen |
---|---|
Entnahme aus Nabelschnur nach Abnabelung, Gewinnung risikoarm | Entnahme aus Knochenmark, Punktion des Entnahmeareals unter Narkose – Infektions- und Narkoserisiko |
kaum Verunreinigung durch Viren o. Ä. | Beeinflussung durch Lebensstil |
keine Wartezeit durch Tieftemperatur-Lagerung | Spenderdateien vermitteln Spenden, Entnahme erfolgt bei Bedarf |
Anlagen für Gendefekte möglicherweise vorhanden (autologe Transplantation) | Spende mehrmals möglich |
nur einmal in begrenzter Quantität extrahierbar | niedrigere Aplasiedauer |
längere Aplasie in der Blutbildung |
Welche Möglichkeiten können Stammzellen bei einer Einlagerung und späteren Verwendung eröffnen?
Stammzellen wird in der Medizin ein erhebliches Potenzial bei der Heilung verschiedener Erkrankungen eingeräumt. Der Grund: Bei diesen Zellen handelt es sich um „Blaupausen“, die verschiedene Entwicklungswege einschlagen können. Damit sind Stammzellen de facto der kleinste gemeinsame Nenner, der alle Körperzellen miteinander verbindet. Embryonale Stammzellen, die mit ganz besonderen Fähigkeiten ausgestattet sind, werden als Vorläufer für alle anderen Körperzellen angesehen. Adulte Stammzellen, um die es beim Nabelschnurblut geht, besitzen zwar nicht alle diese Fähigkeiten, haben aber immer noch erhebliches Potenzial in der Behandlung schwerer Krankheiten.
Wie groß dieses Potenzial tatsächlich ist, lässt sich mit dem aktuellen Wissensstand nur erahnen. Zu den bereits heute standardmäßig durchgeführten Anwendungen gehört der Einsatz bei:
- Tumoren und Krebserkrankungen (Lymphom, Neuroblastom)
- Leukämie oder
- Blutbildungsstörungen.
Darüber hinaus entwickelt die Medizin immer wieder neue Behandlungsansätze auf Basis der Nabelschnurblutstammzellen bzw. richtet die Grundlagenforschung in immer neue Bereiche aus. So gehen Forschungsansätze in Richtung einer Behandlung von:
- Stoffwechsel- und Autoimmunerkrankungen
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen
- Nervenleiden oder
- Regenerationen nach schweren Verletzungen der Wirbelsäule und des Gehirns.
Diese allgemein positiven Anwendungsoptionen der Stammzellen aus dem Nabelschnurblut werden durch weitere günstige Rahmenbedingungen gestützt. So ist für einige Krankheitsbilder die Verwendung der spendereigenen Stammzellen möglich. Da es sich hierbei um körpereigene Transplantate handelt, vermindert sich das Risiko einer Abstoßung laut Seracell durch den Körper erheblich.
Allerdings steht dieser positiven Eigenschaft ein Nachteil entgegen: Für andere Krankheiten mit einer genetischen Ursachenkomponente, wie etwa der Leukämie, kommen heute fremde Spenderzellen zum Einsatz. Hintergrund: Die Medizin fürchtet in diesem Zusammenhang einen erneuten Ausbruch der Krankheiten bei Verwendung spendereigner Stammzellen. Es wird von dem Risiko ausgegangen, dass die Stammzellen eine genetische Anlage für die behandelte Erkrankung in sich tragen. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt. Für die Behandlung von Erwachsenen ist eine kritische Menge an Stammzellen notwendig. Reicht die eigene Spende nicht aus, muss ein zweites Transplantationspräparat hinzugezogen werden.
Aufgrund dieser Rahmenbedingungen haben sich mittlerweile zwei wesentliche Behandlungswege für die Stammzelltherapie mit Nabelschnurblut entwickelt.
- Die allogene Transplantation ist das Anwenden eines fremden Nabelschnurblut-Transplantats. Dieses kann als gerichtete Spende (durch einen Familienangehörigen wie Kinder) erfolgen oder aus einem Spendenregister.
- Autologe Transplantation sind Nabelschnurblutbehandlungen mit Stammzellen, die vom Spender selbst stammen. Im Vergleich zur Fremdtransplantation ist diese Form der Therapie deutlich seltener und kommt unter anderem bei Blastomen zum Einsatz.
Nabelschnurblut einlagern oder spenden – Pro und Kontra
Nabelschnurblut bzw. dessen Aufbewahrung wird von Befürwortern als visionäre und zukunftsweisende Behandlungsform gefeiert. Allerdings darf an dieser Stelle nicht vergessen werden, dass dieser Ansatz noch in den Kinderschuhen steckt. Gerade dann, wenn private Spenderbanken Eltern diese Form der „Vorsorge“ schmackhaft machen wollen, stehen sich medizinische Notwendigkeit und wirtschaftliches Interesse schnell gegenüber. Eltern, die das Nabelschnurblut ihres Kindes medizinisch nutzbar machen wollen, können zu einer Alternative greifen – der Spende. Was ist die bessere der beiden Optionen?
Eine große Stärke der Einlagerung besteht in der Tatsache, dass dem Spender – also Ihrem Kind – bei Bedarf das entnommene Nabelschnurblut bzw. die Stammzellen allein zur Verfügung stellen. Bei einer Spende besteht zwar immer noch die Chance, eigene Stammzellen für eine Transplantation im Bedarfsfall nutzen zu können. Allerdings haben Sie dieses As nur dann im Ärmel, wenn die Medizin Ihre Stammzellen nicht bereits gebraucht hat.
Auf der anderen Seite hat das Aufbewahren der Nabelschnurstammzellen entscheidende Nachteile:
- hohe Kosten in Form vierstelliger Einmalzahlungen und Jahresgebühren
- eventuell nicht ausreichende Menge des Nabelschnurbluts für eine Behandlung
- je nach Erkrankung nur eingeschränkte Verwendung der Eigenspende.
Die großen Vorteile der Spende von Nabelschnurblut sind einerseits der Kostenfaktor und auf der anderen Seite die Gewissheit, anderen mit den daraus gewonnen Stammzellen helfen zu können. Andererseits besteht hier natürlich die Gefahr, dass das Zellmaterial in der Zeit zwischen Geburt und Ausbruch einer schweren Erkrankung aufgebraucht wird. Für die Behandlung mit Eigentransplantaten steht in dieser Situation kein Material mehr zur Verfügung. Muss zur Fremdtransplantation gegriffen werden, kann es zu Komplikationen (Graft-versus-Host Reaktion) kommen.
Gibt es Risiken bei der Entnahme des Nabelschnurblutes und der Stammzellen?
Grundsätzlich ist die Entnahme des Nabelschnurbluts deutlich risikoärmer als die Stammzellgewinnung mit anderen Verfahren (etwa aus der Knochenmark-Spende, das hierfür punktiert werden muss). Hintergrund: Die Entnahme des Materials erfolgt laut Informationen des Klinikum Kulmbachs nach der Abnabelung, weshalb die Risiken gering sind.
Die Entnahme selbst erfolgt in ein Beutelsystem, welches in das Aufarbeitungslabor gebracht wird. Nach der Untersuchung des gespendeten Materials und dem Nachweis von dessen Unbedenklichkeit kann das Nabelschnurblut aufbereitet und tiefgekühlt gelagert werden.
Obwohl die Stammzellen aus dem Nabelschnurblut großes Potenzial besitzen, kommt die Spende nicht für alle Mütter/Kinder in Frage. Zu den Ausschlussgründen gehören:
- das Vorliegen schwerer Erkrankungen (z. B. Erbkrankheiten)
- das Vorliegen verschiedener Infektionskrankheiten
- Frühgeburten
- Betäubungsmittelmissbrauch o. Ä.
Fazit: Nabelschnurblut – die Zukunft der Medizin
Das Thema Nabelschnurblut war lange nur wenigen werdenden Eltern bekannt. Inzwischen ändert sich diese Situation – auch weil die Angst vieler Eltern vor schweren Erkrankungen der Kinder in der Debatte immer wieder in den Mittelpunkt rückt. Betrachtet man die Möglichkeiten und das Potenzial hinter dem Nabelschnurblut, ist dessen Aufbewahrung durchaus sinnvoll – allein schon zum Aufbau eines breiten Pools an Spendermaterial.
Allerdings darf darüber gestritten werden, inwiefern die Aufbewahrung exklusiv für den Spender sinnvoll ist. Dies gilt gerade vor dem Hintergrund der begrenzten Menge an Nabelschnurblut, das für die Stammzellgewinnung zur Verfügung steht. Es ist strittig, ob diese Menge für eine Behandlung als Erwachsener ausreichend ist. Zumal die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass das eigene Nabelschnurblut wirklich gebraucht wird. Ob die hierfür entstehenden Kosten gerechtfertigt sind, muss letztlich jede Familie selbst entscheiden.